Leben mit Contergan – Besuch im Biounterricht


Im Biologieunterricht durften wir eine ganz besondere Besucherin empfangen: Eine Frau, die als Kind durch das Medikament Contergan schwer körperlich beeinträchtigt wurde. Sie gehört zu den Menschen, deren Mütter in den frühen 1960er-Jahren das damals als harmloses Schlafmittel beworbene Medikament während der Schwangerschaft eingenommen hatten – ohne zu wissen, welche Folgen es für das ungeborene Kind haben würde. Über die medizinischen Hintergründe hatten wir bereits im Biologie- und Chemieunterricht gesprochen. Doch eine betroffene Person persönlich kennenzulernen, war eine ganz andere, tief bewegende Erfahrung. 

Unsicherheit und Offenheit 

Als Frau Kuhnt den Raum betrat, war sofort eine gewisse Anspannung spürbar – nicht nur bei ihr, sondern auch bei uns. Viele waren unsicher, wie man sich verhalten oder welche Fragen man stellen darf. Man hat Angst davor etwas Respektloses zu fragen, und dazu muss man verarbeiten, wie das Leben für sie gewesen sein muss und wie es vielleicht immer noch ist. Unsere Lehrerin hatte dafür Verständnis und bot uns an, Fragen anonym auf Zettel zu schreiben. Das half vielen, sich zu öffnen. 

Ein Leben voller Herausforderungen – und Stärke 

Frau Kuhnt erzählte uns ruhig und ehrlich von ihrem Leben. Besonders bewegend war ihre Schilderung der Schulzeit, in der sie oft ausgegrenzt oder unterschätzt wurde – nicht wegen ihres Geistes, sondern allein wegen ihres Aussehens. Doch sie betonte auch die positiven Erfahrungen: ihre Familie, vor allem ihre Mutter, habe sie immer unterstützt und gestärkt. 

Im Alltag meistert sie viele Aufgaben mit den Füßen – vom Anziehen, Essen machen bis zum Zähneputzen. Offen sprach sie auch über Themen wie Schmerzen, Rückenschäden und gesellschaftliche Barrieren. Fragen wie „Wie duschst du?“ oder „Wie kratzt du dir den Rücken?“ beantwortete sie geduldig, auch wenn sie sehr persönlich waren. 

Der Umgang mit dem Contergan-Skandal 

Auf die Frage, ob sie jemals eine Entschädigung erhalten habe, antwortete sie ehrlich: Ja – aber viel zu spät. Besonders für die Eltern der Betroffenen, so sagte sie, wäre eine frühzeitige Anerkennung wichtig gewesen. Viele Mütter fühlten sich ihr Leben lang schuldig, obwohl sie keine Verantwortung trugen. 

Interessant war auch die Information, dass sich je nach Zeitpunkt der Einnahme unterschiedliche körperliche Fehlbildungen entwickelten – zum Beispiel an Armen, Beinen oder inneren Organen. Trotz all dieser Herausforderungen betonte sie: „Ich würde mein Leben für nichts eintauschen.“ 

Eine starke Botschaft 

Was uns am meisten beeindruckte, war ihre positive Lebenseinstellung. Sie sagte:
„Wenn du mit einer schwierigen Situation konfrontiert wirst, kannst du dich von ihr verzehren lassen – oder du akzeptierst sie und lebst dein Leben so, wie du es möchtest.“ 

Diese bedeutungsvollen Worte haben viele von uns zum Nachdenken gebracht. Wir alle nehmen viele Dinge im Leben als selbstverständlich hin – Gesundheit, Mobilität, Unabhängigkeit. Die Begegnung mit dieser starken Frau hat uns gezeigt, wie wertvoll diese Dinge sind und wie wichtig es ist, mit Dankbarkeit, Mut und Offenheit durchs Leben zu gehen. Es hilft uns, unser Leben, die Gegenwart und die Möglichkeiten für die Zukunft mehr zu schätzen. 

Wir danken Frau Kuhnt für ihren Besuch und die Ehrlichkeit, mit der sie ihre Geschichte mit uns geteilt hat. Es war eine eindrucksvolle Lektion – nicht nur in Biologie, sondern auch in Menschlichkeit. 

 

Von Diana, Schülerin der Klasse 10 und Frau Apostel (Biologielehrerin)